MEC - Ikone der Moderne

Im Zentrum von Rio de Janeiro steht - von vielen unbeachtet - das erste moderne Hochhaus der Welt. Das heisst: Das erste Hochhaus, das die Prinzipien der Moderne verkörpert, wie sie von Le Corbusier in den zwanziger Jahren formuliert worden sind und die heute als klassisch bezeichnet werden. Erbaut von 1937 - 1943, ist das Ministerium für Erziehung und Gesundheit (MES - Ministério da Educação e Saúde, heute Palácio Gustavo Capanema) Zeichen einer tiefgreifenden Veränderung in der Architektur - nicht nur Brasiliens, sondern der ganzen Welt.

Hochhäuser gab es zwar schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (die ersten wurden in Chicago errichtet), sie blieben aber in ihren Erscheinungsformen historisierenden Stilvorbildern verhaftet. Die architektonische Moderne hingegen konnte sich zunächst nur an relativ kleinen Bauwerken erproben, die von wagemutigen Bauherren in Auftrag gegeben wurden. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und der zweite Weltkrieg verlangsamten die Entwicklung in Europa, der grosse Aufbruch in die Moderne kam zum Erliegen. In den lateinamerikanischen Ländern gab es hingegen ab 1930 eine grosse Zahl von Bauaufträgen aus öffentlicher Hand zur Verbesserung der Infrastruktur sowie der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Vor allem in Mexiko und Brasilien führte dies zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Politikern und jungen Architekten. So wurde eine qualitätvolle moderne Architektur gefördert, die den technischen und funktionellen Veränderungen der Neuzeit Rechnung trug und den damaligen akademischen Vorbildern fern war.

Die Baugeschichte des MES ist exemplarisch für diese Epoche: 1935 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben für das neue Gebäude des Ministeriums für Erziehung und Gesundheit in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro. Nach der Prämierung verteilte der zuständige Minister Gustavo Capanema zwar die Preise an die Gewinner, war aber mit den Ergebnissen dennoch nicht zufrieden wegen der überwiegend akademischen bzw. neokolonialen Ausrichtung der Entwürfe. Unterstützt auch von dem Dichter Carlos Drummond de Andrade und einigen anderen Intellektuellen, beschloss Capanema, einen der Verlierer des Wettbewerbs mit der Ausarbeitung eines neuen Projekts zu beauftragen - Lúcio Costa. Dieser bat dann darum, weitere ausgeschiedene Teilnehmer mitarbeiten zu lassen und bildete ein Team mit den jungen Architekten Carlos Leão, Jorge Moreira und Affonso Eduardo Reidy. Wenig später kamen noch Oscar Niemeyer und Ernani Vasconcellos dazu. Die Arbeitsgruppe legte das neue Projekt im Mai 1936 vor. Im Bewusstsein der Bedeutung dieser Bauaufgabe schlug Lúcio Costa im Juni 1936 vor, Le Corbusier nach Rio einzuladen, um ihm die ausgearbeiteten Alternativen vorzustellen. Le Corbusier hatte mit seinen theoretischen Schriften schon großen Einfluss auf die moderne Bewegung in Brasilien ausgeübt. Auch besuchte er bereits 1929 auf der Rückreise von Argentinien und Uruguay die Städte São Paulo und Rio de Janeiro, wo er außerordentlich wohlwollend aufgenommen wurde - eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte. Daher nahm Le Corbusier die Einladung bereitwillig an und kam nach Rio, um mit den brasilianischen Architekten einen Monat lang intensiv zusammenzuarbeiten.

Im Januar 1937 wurde das Projekt fertiggestellt mit den typischen Merkmalen der "modernen" Architektur, wie sie von Le Corbusier formuliert worden sind, und einigen brasilianischen Besonderheiten:

Das Grundstück wurde nur teilweise überbaut, um Freiflächen in der dicht bebauten Innenstadt zu schaffen, zum Ausgleich erhöhte man die Zahl der Stockwerke. Der Baukörper ruht auf hohen Säulen (Pilotys), um den Passanten auf Strassenebene freien Weg zu ermöglichen und einen attraktiven öffentlichen Raum zu schaffen.

Die Garten- und Freiflächengestaltung übernahm Roberto Burle-Marx und schuf einen Platz mit frei fließenden Formen, sowohl in der farbigen Pflasterung des Bodens in weiss, rot und schwarz (eine Reminiszenz an portugiesische Bautraditionen), als auch in den geschwungenen Beeten mit tropischen Pflanzen.

Die Fassaden bestehen aus einer nichttragenden Stahl/Glaskonstruktion (curtain wall - lange vor dem Lever Building von Skidmore, Owings und Merril, das erst 1951/1952 errichtet wurde), auf der Nordostseite mit Sonnenblenden (brise soleil) zum Schutz vor der intensiven Lichteinstrahlung. Klare, geometrische Formen sollten für das neue Selbstverständnis des modernen Menschen stehen und die Schönheit der verwendeten Materialien betonen. Skulpturen von Bruno Giorgi und Celso Antônio Menezes vervollständigen das Gesamtkunstwerk zusammen mit den Fliesenbildern von Cândido Portinari, mit denen einige Wände im Erdgeschoss verkleidet sind. Portinari verwendete dabei wie Burle-Marx ein Element der portugiesischen Tradition (Azulejos) in einer völlig neuen Weise.

Das fertige Gebäude fand sowohl in Brasilien als auch international große Beachtung und diente als Vorlage für viele spätere Hochhausprojekte in aller Welt. Die Reinheit und Schönheit dieses Bauwerks in seiner Gesamtkonzeption wurde allerdings kaum jemals wieder erreicht, das Ideal einer neuen, menschlicheren Bauweise nur selten eingelöst.

Wolfram Goebel 2003
Homepage: www.brasildesign.de